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SiD 2012, Teil 1: EU INTCEN und die zukünftigen Herausforderungen der EU

October 6, 2012

Zwischen dem 6. und 8. September 2012 wurde durch die Vereinigung Schweizerischer Nachrichtenoffiziere (VSN) die 2. Swiss Intelligence Days (SiD) im Armee-Ausbildungszenter in Luzern durchgeführt. Offiziere.ch nahm an der 2. SiD teil und berichtet in drei Teilen von den Referaten. Im ersten Teil geht es um die Rolle des EU Intelligence Analysis Centre (EU INTCEN) und um die zukünftigen Herausforderungen der EU. Im zweiten Teil wird eine europäische Lagebeurteilung aus Schweizer Sicht durchgeführt und Konsequenzen für die Schweiz erörtert. Im dritten Teil wird der Sicherheitsverbund Schweiz betrachtet. (Teil 2 und 3 werden in den nächsten Wochen veröffentlicht)

Das EU INTCEN
Ilkka Salmi, der Direktor des EU INTCEN, stellte das Lagezentrum der EU näher vor, denn eigentlich handelt es sich beim EU INTCEN nicht um einen Nachrichtendienst. Seine Ausführung enthielten keine brisanten Angaben, denn das Lagezentrum der EU wird ausführlich auch in Mai’a K. Davis Cross, “EU Intelligence Sharing & The Joint Situation Centre: A Glass Half-Full” (University of Southern California, Draft Paper, 2011) beschrieben, auf dem ich als Quelle basiere. Das EU INTCEN wertet mit nicht ganz 100 Mitarbeitern bereits vorhandene Informationen aus, verdichtet sie und verteilt die dataus gewonnen Erkentnisse weiter. Die Informationsbeschaffung beschränkt sich auf öffentlich zugängliche Quellen, diplomatische Berichte, Beiträge von den Mitgliedsstaaten auf spezifische Anfragen (auch aus der Schweiz) sowie Satellitendaten des Satellitenzentrum der EU (nur IMINT). Als Endprodukt werden aussen- und sicherheitspolitische Analysen erstellt. Das EU INTCENT verfügt über keinen Gegennachrichtendienst und es führt keine versteckte Nachrichtenbeschaffung durch. Ausserdem verfügt es über keine SIGINT und HUMINT Quellen.

Es gab immer wieder eine nachrichtendienstliche Zusammenarbeit einiger europäischen Staaten. Konkretisierter wurde diese Zusammenarbeit nach der Verabschiedung des Vertrags von Nizza 2001 und mit der Etablierung einer Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). 2002 wurde das Joint Situation Centre der EU (der alte Name des EU INTCEN) gegründet, was jedoch bis zumVertrags von Lissabon über keine rechtliche Grundlage verfügte. Diese wurde erst mit der Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und dem Europäischer Auswärtiger Dienstgeschaffen, welcher den Hohen Vertreter der EU für Aussen- und SicherheitspolitikCatherine Ashton, unterstützen soll. Dabei ist das EU INTCEN Bestandteil des Europäischen Auswärtigen Dienstes.

Thematisch konzentriert sich das EU INTCEN auf Terrorismus (dieser Bereich umfasst rund 40% der Arbeiten), Proliferation, die für die EU sensitiven geographischen Bereiche (insbesondere auf dem afrikanischen und asiatischen Kontinent) und Cyber-Bedrohungen. Dabei interessiert sich das EU INTCEN ausschliesslich für die strategische Ebene – die taktische Ebene liegt in der Verantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten, welche vom EU INTCEN Informationen beziehen können. Haöljährlich erstellt das EU INTCEN in Zusammenarbeit mit der Nachrichtenzelle des EU Militärstabs(EUMS INT) ein Global Threat Review, welches auch die Schweiz erhält.

Momentan für den EU INTCEN wichtige Themen sind die Entwicklungen in Verbindung mit dem arabische Frühling, dem Iran, der Sahelzone (inkl. Mali), Somalia, Russland und den westlichen Balkan. Es sind alles Bereiche, welche die EU direkt betreffen. Im Bereich der Cyber-Bedrohungen geht es darum die Grundlagen zu schaffen, um die EU Institutionen vor Cyberangriffen zu schützen. Im Bereich der Terrorismusbekämpfung bleibt die al-Qaida mit all ihren Ablegern das hauptsächliche Ziel der Nachrichtenbeschaffung. Insbesondere in der Sahelzone, in Somalia und in Jemen nimmt die Bedrohung der al-Qaida zu, so dass der EU INTCEN den islamistischen Terrorismus mit afrikanischen Wurzeln momentan als Hauptbedrohung für die EU betrachtet. Die Informationsbeschaffung über die Organisierte Kriminalität gehört zwar nicht zu den eigentlichen Tätigkeiten der EU INTCEN, doch fallen solche Informationen zwangsläufig an, welche dann ebenfalls ausgewertet werden.

Die grösste Herausforderung für das EU INTCEN stellt die nach wie vor mangelnde Zusammenarbeit der staatlichen Nachrichtendienste dar. Die staatlichen Nachrichtendienste sind bei Anfragen zu keinem Informationsaustausch verpflichtet. Dies stellt ein limitierende Faktor dar: solange die nachrichtendienstliche Tätigkeiten eine staatliche Aufgabe bleiben, wird das EU INTCEN kaum weiter ausgebaut werden.

Die zukünftigen Herausforderungen der EU
Professor Nuno Severiano Teixeira, portugisischer Verteidigungsminister zwischen 2006 und 2009, informierte über die zukünftigen Herausforderungen der EU im sicherheitspolitischen Bereich. Viele der Herausforderungen sind mit den Wurzeln der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verbunden. Dabei waren insbesondere zwei Ereignisse entscheidend:

1.- Die Gründung der Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl am 18. April 1951, welche mit der Schumann-Erklärung Stabilität und Frieden in Europa garantierte. Die Geschichte zeigt, dass dieses rein zivile Unterfangen erfolgreich war.

2.- Die nie zustandegekommenen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und die Gründung der Westeuropäische Union (WEU) 1954 durch Frankreich, Grossbritannien, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, der Bundesrepublik Deutschland und Italien, welche jedoch ein Fehlschlag war und schliesslich am 30. Juni 2011 aufgelöst wurde.

Durch den Erfolg der selektiven wirtschaftlichen Zusammenarbeit am Beginn der europäischen Integration und den Misserfolg bei der militärischen Kooperation, blieb die EU hauptsächlich eine zivile Organisation. Für die Verteidigung des europäischen Territorium sind die staatlichen Streitkräfte der Mitgliedsstaaten und auf supranationaler Ebene die NATO verantwortlich. Diese Aufgabenteilung war insbesondere während des Kalten Kriegs erfolgreich, als sich militärische Auseinandersetzungen weitgehend nach klassisch-konventionellen Mustern abspielten. Nach dem Kalten Krieg, insbesondere während den Kriegen in Jugoslawien, zeigten sich die Nachteile dieser Aufgabenteilung: die EU war nicht in der Lage Sicherheit auf dem europäischen Kontinent durchzusetzen. Gleichzeitig waren die Kriege in Jugoslawien ein Wendepunkt für die EU: die Gemeinschaft realisierte, dass sie Instrumente zur Kriesenbewältigung, zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und zur Verteidigung unabhängig zur NATO benötigt. Dies führte 2001 mit dem Vertrag von Nizza zur ESVP und 2003 zur europäischen Sicherheitsstrategie (European Security Strategy; ESS; diese Strategie wurde 2008 durch den “Bericht über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie” nur unwesentlich ergänzt). In dieser Strategie werden nicht nur zivile, sondern auch militärische Fähigkeiten erwähnt, ohne dabei jedoch konkret zu werden.

Die Grundlage für die heutige europäische Sicherheitspolitik ist der Vertrag von Lissabon, mit dem hauptsächlich vier sicherheitspolitische Veränderung in der EU implementiert wurden:

Im EU-Vertrag (Artikel 42 Abs. 7) wurde eine Beistandsverpflichtung im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingefügt, welche vom Charakter her die EU zu einem Defensivbündnis machte und mit dem NATO Artikel 5 verglichen werden kann. Damit wird das grundlegende Fundament der EU – die Solidarität unter den Mitgliedsstaaten – gestärkt.

Im Artikel 43 des EU-Vertrages wurde festgehalten, dass die EU zur Durchführung umfassender Abrüstungsmassnahmen, humanitärer Aufgaben und Rettungseinsätzen, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie zur Durchführung von Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschliesslich Frieden schaffender Massnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann. Diese Missionen sollen auch zur Bekämpfung des Terrorismus beitragen, unter anderem auch durch die Unterstützung von Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet. Diese Bestimmung wurde von der WEU übernommen. In seiner Gültigkeit für alle Mitgliedsstaaten der EU und in der graduellen Erweiterung der Missionen übersteigt diese Bestimmung die Petersberg-Aufgaben.

Zwar wurde die Europäische Verteidigungsagentur bereits 2004 gegründet, doch erst mit dem Vertrag von Lissabon wurde sie in das europäische Primärrecht aufgenommen. Gemäss Artikel 42 Abs. 3 bzw. Artikel 45 des EU Vertrags ermittelt die Europäische Verteidigungsagentur den operativen Bedarf, fördert Massnahmen zur Bedarfsdeckung, trägt zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis im Verteidigungssektor bei, beteiligt sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten sowie der Rüstung und unterstützt den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten. Durch ihre eingeschränkten personellen Ressourcen (116 Angestellte, 2011), ihrem relativ geringen Budget (rund 30 Mio Euro für 32 Projekte und Programme in 2011) und auf Grund des Widerstands einiger Mitgliedsstaaten (Dänemark ist beispielsweise nicht Mitglied) blieb die Wirkung der Europäischen Verteidigungsagentur bis heute minimal.

Bereits vor dem Vertrag von Lissabon existierte zwischen einigen Mitgliedsstaaten eine Sicherheit- und Verteidigungskooperation, die in den EU Vertrag aufgenommen wurde und an dem alle Mitgliedsstaaten teilnehmen können, wenn sie die Kriterien erfüllen (Artikel 42 Abs. 6 des EU Vertrags). Ein potentieller Mitgliedsstaat muss als nationales Kontingent oder als Teil von multinationalen Truppenverbänden bewaffnete Einheiten bereitstellen, die auf die in Aussicht genommenen Missionen ausgerichtet sind, taktisch als Gefechtsverband konzipiert sind, über Unterstützung unter anderem für Transport und Logistik verfügen und fähig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen aufzunehmen und diese Missionen für eine Dauer von zunächst 30 Tagen (die bis auf 120 Tage ausgedehnt werden können) aufrechtzuerhalten (basierend auf “Protokoll über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“, Amtsblatt der Europäischen Union, 16.12.2004). Diese Restriktion führte zu einigen Kritiken. Ausserdem bleibt die grundlegende Frage bestehen, ob die EU politisch fähig und willens ist dieses Instrument auch wirklich zu nutzen.

Professor Nuno Severiano Teixeira sieht die wichtigste zukünftige Herausforderung der EU im demokratische Mitspracherecht und in der demokratische Kontrolle. Dies gilt insbesondere im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, weil dieser Bereich immer noch hauptsächlich in den Kompetenzen der einzelnen Mitgliedsstaaten verbleibt und demokratisches Mitspracherecht bzw. Kontrolle auf der Ebene der EU fehlen. Ausserdem müssen die verschiedenen Aktionen in den Missionen besser koordiniert werden, denn momentan unterstehen verschiedene Instrumente in der geleichen Mission verschiedenen Bereichen der EU mit verschiedenen Entscheidungsfindungsprozessen und verschiedenen finanziellen Ressourcen. Dies gilt auch im Bereich der militärischen Fähigkeiten: die 17 Mitgliedsstaaten der EU verfügen zusammengenommen über ein staatliches Verteidigungsbudget von 20 Million Euro und über 1,7 Millionen Soldaten. Diese Ressourcen unterstehen ausschliesslich der Verantwortung des einzelnen Mitgliedsstaats – die EU hat keinen Zugriff auf das Verteidigungsbudget und die Streitkräfte der einzelnen Mitgliedsstaaten. Die EU selber verfügt im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik über knapp 10% dieser Ressourcen. Der Fakt, dass jeder einzelne Mitgliedsstaat über sein eigenes Verteidigungsbudget und seine eigenen Streitkräfte verfügt, bedeutet gesamteuropäisch betrachtet ein ineffizienter Einsatz von militärische und finanzielle Ressourcen, insbesondere durch Doppelspurigkeiten der einzelnen Mitgliedsstaaten. Eine Überwindung dieses Zustands würde ein bedeutender Souveränitätsverlust bedeuten und wäre nur mit dem entsprechenden politischen Willen der Mitgliedsstaaten möglich.

Eine weitere grosse Herausforderung liegt in der Art und Weise, wie die EU ihre Verantwortung in der internationale Politik wahrnimmt. Nach dem Kalten Krieg machte sich die EU für einenmultilateralen Ansatz in der internationalen Politik stark. Die Stabilisierung Europas nach dem Kalten Krieg und die Osterweiterung der EU verstärkte die Ansicht, dass der multilaterale Ansatz in der internationalen Politik den Schlüssel zum Erfolg ausmacht. Das Erstarken der BRIC-Staaten führt dazu, dass das wieder erstarkte Russland sowie die aufstrebenen Mächte China, Indien und Brasilien ihre Macht auf internationaler Ebene in traditioneller Weise durchsetzen möchten: zuerst kommen die nationalen Interessen, erst danach die globalen. Solange sich die EU dementsprechend nicht anpasst, wird sie international auch keine Rolle spielen. Die sicherheitspolitische Strategie 2008, welche eigentlich aus dem Jahre 2003 stammt, gibt dafür keine genügende Grundlage. Dies beeinflusst auch das Verhältnis zu den USA, denn die USA ist nur dann an der EU interessiert, wenn sie ein verlässlicher Partner darstellt und auch gewisse militärische Fähigkeiten aufweisen kann.

Im zweiten Teil (wird in den nächsten Wochen veröffentlicht) wird eine europäische Lagebeurteilung aus Schweizer Sicht durchgeführt und Konsequenzen für die Schweiz erörtert.

Otra interesante aproximación al IntCen y sus orígenes y objetivos en: Le SEAE aménage son organisation politico-militaire